Oleksandr Dobržans’kyj,
Mykola Kušnir, Marija Nykyrsa: Jevrejske naselennja ta rozvytok
jevrejs’koho nacional’noho ruhu na Bukovyni v ostannij čverti XVIII – na
počatku XX stolittja. Zbirnyk dokumentiv ta materialiv. Černivci
2007 (Vydavnyctvo Naši knyhy). [Jüdische Bevölkerung und die
Entwicklung der jüdischen Nationalbewegung in der Bukowina vom letzten
Viertel des 18. bis zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Dokumente und Materialien.
Tscherniwzi 2007. (Verlag Naši knyhy)]. ISBN 978-966-482-001-8
Rezension von Markus Winkler
Mit dieser verdienstvollen Arbeit zur Geschichte des Bukowiner Judentums in
der Habsburgermonarchie entsteht für den Wissenschaftsbetrieb eine
einigermaßen paradoxe Situation. Ukrainischsprachige Forscher können
zukünftig auf Handschriften, Typoskripte und Zeitungsartikel aus dem Deržavnyj Archiv Černivec’koï Oblasti (DAČO)
[Staatliches Archiv des Czernowitzer Gebietes] zugreifen und diese in ihre Arbeiten
integrieren, die im Original überwiegend auf Deutsch vorliegen (einige
wenige auch auf Hebräisch und Jiddisch), bisher aber zum großen Teil
nicht veröffentlicht wurden. Die Arbeit der drei Autoren – allesamt
ausgewiesene Kenner der Materie (zwei Czernowitzer Historiker und die
langjährige Leiterin der Zeitungsabteilung des DAČO) – knüpft an
die erfreuliche Entwicklung in der Bukowina-Forschung der vergangenen Jahre an:
sukzessive werden zeitgenössische Primärquellen (Zeitungen,
Zeitschriften und Archivdokumente) in die Beurteilung der politischen und
kulturellen Entwicklungen des Bukowiner Judentums einbezogen. Seit den 1990er
Jahren sind reihenweise Publikationen entstanden, in denen diese Quellen von
zentraler Bedeutung waren (zu nennen wären die Beiträge von David
Schaary, Mariana Hausleitner, Andrei Corbea-Hoisie, Emanuel Turczynski, Susanne Marten-Finnis, Mykola Kushnir,
Peter Motzan, Peter Rychlo, Markus Winkler u.a.).
Nicht zuletzt die Öffnung von Archiven und Bibliotheken im
ostmitteleuropäischen Raum führte in den zurückliegenden beiden
Dezennien dazu, dass sich der Umfang an neuen Forschungsmaterialien enorm
ausweitete und die Relevanz von Zugänglichkeit und Dokumentation der
Archivalien erkannt wurde, was auch in grenzüberschreitende Projekte
mündete (z.B. Arbeitskreis Czernowitzer Presse). Zwar stellen Digitalisierung
und Indexierung von Archivmaterialen den Idealfall für einen schnellen
Zugriff dar, doch konnte dies nur in wenigen Fällen für diesen
geographischen Raum realisiert werden. Daher ist der Nutzwert der vorliegenden
Publikation nicht zu überschätzen, bietet sie doch eine erste
Recherchegrundlage für einen Forschungsaufenthalt im DAČO, dessen
Findbücher bereits eine frühere Arbeit 2006 dokumentiert, die auf der
Internetseite des Archivs dem Leser zur Verfügung steht (Deržavnyj
arhiv Černivec’koż oblasti. Putivnyk. Tom 1. Fondy doradjans'koho periodu)
[Staatliches Archiv des Gebietes Černivci. Bestände. Band 1.
Findbücher der vorsowjetischen Zeit].
Die Idee des Bandes geht auf eine Arbeit zurück, die im Jahr 2003
abgeschlossen wurde und in Buchform unter dem Titel Naciż ta narodnosti Bukovyny u fondah Deržavnoho arhivu
Černivec’koż oblasti [Nationen und Ethnien der Bukowina in den Fonds
des Staatlichen Archivs des Gebietes Černivci] erschienen ist
(Auszüge sind ebenfalls auf der Internetseite des DAČO einsehbar).
Beide Bücher entstanden im Rahmen eines Forschungsprojektes der
Universität Černivci zur „Entstehung, Entwicklung und
Wechselwirkungen der nationalen Bewegungen in der Bukowina in der zweiten
Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts“.
Die Herausgeber fokussieren in ihrer Auswahl auf die jüdische
Minderheit der Bukowina und ihre Entwicklung in der Zeit der
Habsburgermonarchie (1774 bis 1918). Damit ist ein Zeitraum vorgegeben, der
für die jüdische Bevölkerung durch gewaltige Umbrüche
geprägt war. Die Emanzipation und bürgerliche Gleichstellung im
Verlauf des 19. Jahrhunderts waren die Triebfeder eines gesellschaftlichen
Aufstiegs in den Städten der Monarchie, der am Beispiel von Czernowitz wie
an kaum einem anderen Ort veranschaulicht werden kann.
Hier prägte sich ein jüdisches Selbstbewusstsein aus, das in
Politik, Wirtschaft, Kultur und Presse seinen Niederschlag fand und sich
beispielsweise in der Wahl des ersten jüdischen Bürgermeisters einer
Landeshauptstadt ausdrückte. Doch verlief die Entwicklung des Judentums in
dieser Region keineswegs eindimensional. Denn die Stadt war trotz allem eine
Enklave im ruralen Raum. So fanden neben den jüdischen Nationalbewegungen
und deutscher Assimilation und Akkulturation auch die Orthodoxie und der
Chassidismus ihre Anhänger.
Die Herausgeber waren daher bemüht, diese Bandbreite weitestgehend
adäquat abzudecken und sehen in ihrer Publikation „einen Beitrag zum
Verständnis jener komplexen und widersprüchlichen ethnonationalen
Prozesse und Phänomene, die in der genannten Periode im Leben der
jüdischen Bevölkerung in der Bukowina zum Vorschein kamen und sich
[…] in zwei entgegengesetzte Richtungen entwickelten. Einerseits fand die
Formierung von einer besonderen, ,bukowinischen‘ Identität der Juden
statt. Andererseits ging es um das nationale Erwachen, Konsolidierung und
Selbsterkenntnis der einheimischen Juden als Bestandteil des uralten
jüdischen Volkes“.
Insgesamt werden 133 Dokumente in chronologischer Reihenfolge vorgestellt.
Unter den Dokumenten sind Verordnungen und Kundmachungen der Regierungsorgane,
Berichte der Kreisverwaltungen über die Lage der jüdischen
Bevölkerung in der Provinz, Bittschriften, Anzeigen, Petitionen, Statute
unterschiedlicher politischer, religiöser, kultureller und wohltätiger
Vereine, Berichte der Polizeidirektionen über Versammlungen und
Konferenzen zu jüdischen Themen und Auszüge aus Reden. Darüber
hinaus werden Zeitungsartikel deutscher, deutsch-jüdischer, jiddischer,
hebräischer und ukrainischer Periodika vorgestellt (Die Volkswehr, Vorwärts,
Czernowitzer Allgemeine Zeitung, Der Jüdische Volksrat, Czernowitzer Tagblatt, Neue Israelitische Allianz, Allgemeine Israelitische Allianz, Hamizpe [Der Wächter], Mährisch-Schlesischer Korrespondent,
Russkij vestnik [Russischer Bote], Bukovyna und Ruska Rada [Ruthenischer Rat].
Thematisch lassen sich die ausgewählten Materialien wie folgt
kategorisieren:
(a) rechtlicher Status der jüdischen Minderheit bzw. Gemeinden in der
Bukowina (z.B. „Allgemeine Ordnung für die gesamte Judenschaft der
Königreiche Galizien und Lodomerien“, 16. Juni 1776).
(b) Anfänge der chassidischen Bewegung in Sadagora (z.B. Bittschrift
von Srul Friedmann Donnenfeld um Niederlassung in Sadagora vom 12. Mai 1842.
Unter diesem Namen wandte sich Israel Friedmann, der Begründer der Wunderrabbidynastie
von Sadagora, an die Behörden. 1842 ließ er sich in Sadagora nieder
und gründete ein Zentrum der chassidischen Bewegung, das bis zum Ersten
Weltkrieg existierte. In einer Bittschrift an das Galizische
Landespräsidium bittet er darum, seinen Hausarrest aus gesundheitlichen
Gründen in Sadagora und nicht in Czernowitz verbringen zu dürfen,
denn er bräuchte „ständige Ruhe und [müsse] jegliche Unruhe und
Hektik einer Großstadt vermeiden“.
(c) Gründungsprozess der jüdischen nationalen Minderheit,
Spaltung der jüdischen Gemeinde und die Rolle des Staates bei der
Konfliktlösung um die jüdische Gemeinde (z.B. Bekanntmachung des
Stadtmagistrats über die Verabschiedung des Statuts der Czernowitzer
jüdischen Gemeinde, 2. Juli 1871).
(d) Die wichtigsten Etappen der jüdischen nationalen Bewegung (z.B.
Statute und Berichte).
(e) Dokumente zu Wohltätigkeits- und Hilfsorganisationen der
jüdischen Gemeinde.
(f) Dokumente zur Lage der jüdischen Bevölkerung im Ersten
Weltkrieg und während der dritten russischen Okkupation zwischen dem 16.
August und 20. November 1917.
(g) Dokumente aus der Zeit des Niedergangs der Habsburgermonarchie (z.B.
Antwort des Jüdischen Nationalrates an den Präsidenten des
rumänischen Nationalrates Iancu Flondor auf die Einladung zum Kongress der
Nationalräte des Landes, 27. November 1918).
Die Dokumente zeigen einen Querschnitt der jüdischen Geschichte der
Habsburgermonarchie und bezeugen die Ab- und Ausgrenzungen der Juden, Versuche
einer Integrationspolitik bis zur bürgerlichen Gleichstellung 1867 und
Emanzipations- und Nationalisierungsprozesse. Die „Allgemeine Ordnung für
die gesamte Judenschaft der Königreiche Galizien und Lodomerien“ von 1776
durch Maria Theresia (die Bukowina war zu diesem Zeitpunkt ein Kreis von Galizien
und Lodomerien) unterstellte die Strafgerichtsbarkeit dem Staat, auch wenn
Kahale (mit eigener Gerichtsbarkeit ausgestattete Körperschaft bei den
Juden) nicht aufgehoben, sondern „lediglich in einen Zusammenhang gebracht“
werden sollten. Nach dieser Übergangsphase wurden die Kahale durch das
Toleranzpatent von Joseph II. abgelöst und die jüdischen Gemeinden
den Ortsgemeinden politisch unterstellt. Die Folgen dieser Reformen waren
gravierend und beeinflussten die kulturelle und
religiöse Identität
der Juden und ihre wirtschaftliche und soziale Entwicklung
in der Monarchie.
Der Staat suchte nach weiteren Instrumenten, um die jüdische
Bevölkerung vollständig zu erfassen und beispielsweise eine direkte
Besteuerung flächendeckend einzuführen. Eine Verordnung Franz II. vom
21. Februar 1805 regelte die Namensvergabe der Juden, die bis zu diesem
Zeitpunkt häufig Spitznamen trugen, die sich „vom ständigen oder
vorübergehenden Wohnort“ ableiteten. Hier wollten die Behörden
gegensteuern, denn politische, gerichtliche und private Angelegenheiten konnten
nicht geregelt werden, „wenn einige Bevölkerungsschichten keine
ständigen Familiennamen haben und manche Personen nicht einmal Vornamen“.
Von nun an sollten deutsche Vor- und Familiennamen eingeführt und
verwendet werden. Den Wohlhabenden drohte bei Missachtung eine Geldstrafe, die
Armen mussten damit rechnen, gemeinsam mit ihren Familien des Landes verwiesen
zu werden. Deutsch war ab dem 1. Juni 1805 als Sprache der Geburts- und
Beschneidungsbücher vorgeschrieben.
Religiöse Angelegenheiten der jüdischen Gemeinde spiegeln sich
neben den Nationalisierungsprozessen in zahlreichen der aufgenommenen Dokumente
wider. Zum einen in der klassischen Darstellung einer sich entwickelnden
Infrastruktur, d.h. in Statuten von Vereinen und Organisationen (Auszüge
aus dem Statut des Czernowitzer jüdischen Spitals, 8. April 1852 und aus
dem Statut der Grundschule „Talmud-Tora“ für Jungen und Mädchen der
Czernowitzer jüdischen orthodoxen Gemeinde, 19. Juli 1872; Statut des „Vereins
des jüdischen Tempels in Czernowitz“, 1872; Statut der Czernowitzer
jüdischen religiösen Gemeinde, 1876; Statut des „Politischen Vereins
der progressiven Juden der Bukowina“, 6. Oktober 1905; Statut des
„Jüdischen politischen Vereins“, 21. Januar 1907 u.a.). Zum anderen bieten
Korrespondenzen zwischen Gemeinde und Einzelpersonen einerseits und
Behörden andererseits einen Einblick in das jüdische Alltagsleben und
in die innerjüdischen Kontroversen. Ein Beispiel sei genannt: Der Vorstand
der jüdischen religiösen Gemeinde bat die Landesverwaltung in einem
Schreiben vom 15. Mai 1862 darum, Lazar Elias Igel als Landesrabbiner auf
Lebenszeit ernennen zu dürfen, obwohl das Gesetz eine Wahl alle drei Jahre
vorschrieb. Durch diesen Schritt sollte eine innerjüdische Auseinandersetzung
beendet und die Gegner marginalisiert werden. Die Auseinandersetzungen, die
Wahlkampf und Wahl mit sich brächten, wurden offen angesprochen: „Wir
möchten die Aufmerksamkeit ihrer k. und k. Majestät Landesverwaltung
darauf lenken, dass die Wiederwahl eines Landesrabbiners bei uns zum Grund
für schmutzige Spiele und zahlreiche Konflikte werden kann. Dies hindert
einen Rabbiner bei der Ausübung seines Amtes [...].“ 1872 kam es
zwischenzeitlich zur Spaltung der jüdischen Gemeinde, die aber wenig
später durch die Einsetzung eines liberalen und eines konservativen
Rabbiners aufgehoben werden konnte.
Die in den 1890er Jahren beginnenden Nationalisierungsprozesse unter den
Czernowitzer Juden und die Reaktionen darauf werden in mehreren Dokumenten zur
Sprache gebracht. Einige Juden gingen konsequent den Weg von der sehr
verbreiteten deutschen Akkulturation hin zur völligen Assimilation. Der
Austritt aus dem Judentum musste auch dem Czernowitzer Stadtmagistrat
mitgeteilt werden, wofür sich in den Archivunterlagen Belege finden (z.B.
Schreiben von Dr. Hermann Blaukopf vom 6. September 1899). Dennoch dominierten
bis
Oberflächlich betrachtet bestanden in Czernowitz zwei miteinander
konkurrierende nationaljüdische Strömungen. Dies hatte jedoch weniger
ideologische als vielmehr persönliche Gründe, ist aber zu einem
wichtigen Teil der jüdischen Stadtgeschichte geworden. Der zahlreiche
Ämter bekleidende Benno Straucher, dessen Antrag auf „Bürgerschaft
der Stadt Czernowitz“ (17. März 1893) ebenso in den Band aufgenommen wurde
wie einige seiner programmatischen Artikel aus der Volkswehr, sah sich der Konkurrenz der Zionisten um Leon Kellner
und Mayer Ebner ausgesetzt, die in ihrer Zeitung (Der Jüdische Volksrat) und auf Versammlungen (siehe Bericht
der Polizeidirektion über den Verlauf der Versammlung des „Jüdischen
politischen Vereins“, 21. November 1908) auf Angriffe der Gegenseite reagierten
und gleichfalls mit Beschuldigungen zu Feld zogen. Diese Spirale populistischer
Einwürfe drehte sich bis in die 1930er Jahre weiter – ein Vorgang, den
Spötter auch als „dreißigjährigen Krieg“ zwischen Ebner und
Straucher bezeichneten.
Die Herausgeber haben – auch um die Originalität der Quellen zu
demonstrieren – einige Dokumente als Faksimile in den Band aufgenommen. Darin
finden sich Fotografien, Karten und Pläne – beispielsweise die „Situation
von einem Theile bei der Erdschlucht in der Judenstadt“ (1828), ein „Plan zur
Regulierung der durch Brand gelittenen Stadttheiles zu Czernowitz“ (1859) oder
eine Profilskizze des geplanten Umbaus des Alten Marktes/Herzl-Platz (1906) –,
Urkunden (Pässe für Reisen nach Russland und Bessarabien aus den
Jahren 1871 und 1872, Heirats- und Geburtsurkunden von 1881), Auszüge aus
Korrespondenzen und die Titelblätter zweier hebräischer
Buchpublikationen (aus den Jahren 1868 und 1882) und einiger ausgewählter
Zeitungen und Zeitschriften wie Neue
Israelitische Allianz (jiddisch, 7. Dezember 1883), Hamizpe (hebräisch, 28. Januar 1888), Das Volk (20. Mai 1910) und
Czernowitzer Allgemeine Zeitung (14. November 1915).
Abgeschlossen wird der Band mit einem Glossar (149 Einträge) zu
jüdischen Fachtermini und biographischen Angaben zu einigen in den
Materialien erwähnten Persönlichkeiten. Als gutes Hilfsmittel
für die eigene Forschung erweist sich der umfängliche Orts- und
Personenindex (rund 1600 Einträge). Der gut sortierte, jedoch zum
großen Teil unerforschte Bestand zum Judentum der Bukowina im
Czernowitzer Staatsarchiv lädt zu weiteren Publikationen dieser Art ein.
Dabei sollte auch eine deutschsprachige Ausgabe als Projektziel ins Auge
gefasst werden.